Ich gehe sehr gerne spazieren.
Einfach so.
Das ist die Wahrheit.
Ein Satz wie ein Outing.
Der Spaziergang als solcher ist ebenso aus der Mode gekommen wie die kultivierte Kopfbedeckung. Nicht weniger bedauerlich. Fortbewegung zu Fuß muss heute entweder a) zielgerichtet sein oder b) wenigstens „Powerwalking“ heißen und energischen Blickes mit Stöcken betrieben werden. „Wandern“, wenn auch etwas angegraut, kann angesichts der einzubringenden Anstrengung und des aktiven (!) Natur(!)erlebnisses (!) gerade noch so durchgewunken werden. Die Frage nach der bevorzugten körperlichen Ertüchtigung und Bewegungsform mit „Spazierengehen“ zu beantworten ist jedoch in etwa so, wie die Frage nach der im Bücherschrank beheimateten Literatur mit der Nennung des Telefonbuches zu quittieren. Oder zu fortgeschrittener Stunde in einer geselligen, rotwangigen Kneipenrunde zu konstatieren, man gehe gerne um 21 Uhr in’s Bett.
Ein Moment betretenen Schweigens ist noch das Vorteilhafteste, was man da erwarten darf.
Spazierengehen ist Langeweile und Müssiggang pur! Nutzlos und ineffizient in jeder Hinsicht, ein Atavismus, ganz klar herauszukürzen im Hinblick auf das personal daytime management und die performance-Optimierung!
Wer spazieren geht, macht sich verdächtig, undzwar zahlreicher unguter Sachen. Er späht etwas aus, er stalkt womöglich, beobachtet und kontrolliert die Nachbarschaft, er läuft davon, vermeidet, will nicht angetroffen werden, nicht kommunizieren, ist nicht da.
Bezeichnenderweise kann man im Rahmen polizeilicher Ermittlungen ein „Ich war spazieren“ rein alibitechnisch gleich mal in die Tonne treten. Spazierengehen ist wie „nichts“, es gildet nicht, ist nicht mehr als ein suspekter Leerlauf in der Tages-Agenda – ein Fragezeichen und „Füllsel“, wo etwas Richtiges hätte sein müssen!
Wer fragt, was man denn heute noch so vorhabe, und darauf die Auskunft erhält „Ach, ich möchte noch einen kleinen Spaziergang machen“, fühlt sich affirmativ aufgefordert, einen aus offenkundiger Einsamkeit und ratloser Tagesleere mittels eines Besuches zu erretten.
So geht es dem Spaziergang, dem Armen.
Und jetzt komme ich.
Und finde das Spazierengehen, Flanieren, Schlendern ganz wunderbar!
Regelmässig schreite ich zum Äußersten und einfach los. Ab Haustür.
Das kleine Städtchen Seesen macht es einem leicht, es gibt nämlich sehr viel Hübsches darin zu sehen.
Meine Oma, der ich das Weiterreichen einiger Kulturgüter verdanke, nahm mich schon als kleines Kind auf Spaziergänge mit. Es hieß dann: „Komm‘, wir gucken in die Gärten!“. Und genau das haben wir dann auch gemacht, überwiegend schweigend und mit größtem Vergnügen. Ich meine, dazu ist doch ein Garten da – damit einer ‚reinguckt! Namentlich der Vorgarten, der nun wirklich schon naturgemäß keinem anderen Zwecke dienen kann. (Ich habe jedenfalls noch nie jemanden darin sitzen und Würstchen grillen sehen.)
Warum stellen Menschen hübsch getöpferte Figürchen und zum Erntedank (sorry, heute: „Halloween“) einen in stundenlanger Arbeit ausgenommenen, fratzig geschnitzten und nun von Innen illuminierten Kürbis vor ihre Eingangstür? Richtig – damit es einer anguckt!
Von Vorgartenrabatten, Töpferfigürchen, mühsam von unerwünschter Pflasterfugen-Vegetation gesäuberten Garageneinfahrten über engagierte Fensterdekorationen bis hin zur akkurat geschnittenen Hecke oder frisch lasierten, hölzernen Mülltonnen-Umkleidung möchte alles angesehen werden – denn dazu wurde es ja gemacht.
Mit ernsthafter Verantwortung nehme ich mich regelmäßig dieser wichtigen Aufgabe an.
Denken Menschen „So kann man das nicht lassen – wie sieht das denn aus!“, dann denken sie an mich. Ich zolle Ihren Mühen Tribut und schaue alles an, wohlwollend, nicke es ab, nehme es wahr.
Ganz wunderbare Dinge kann entdecken, wer feierabends durch ein kleines Städtchen schlendert. Der marode Charme altherrschaftlicher Fabrikanten-Villen mit abblätterndem Putz, denen man stumm die Frage stellt, ob darin denn noch jemand wohne, und wo dieser verwunschene Gartenpark wohl enden möge, geht nahtlos über in nach klaren Regeln gepflegte Neubaugebiete, für die es in Baumärkten die Abteilung „Vorgartendeko“ gibt (siehe oben).
Alleinstehende Ömchen hegen Orchideen- und Exoten-überladene Blumenfenster, die jede Orangerie in den Schatten stellen. Ganz ohne Eintritt. Vorspeispazieren und schauen darf jeder – ja, er soll sogar!
Auch zu eigentlich diesem Zwecke schön angelegte und gepflegte Stadtparkflächen werden viel zu wenig beschlendert und durchflaniert. Ich versuche auch hier, nach Kräften meinem Auftrag gerecht zu werden, und frisch vom Laub befreite Rasenflächen ebenso dankbar abzunicken wie das liebevoll renovierte Entenhaus am Teich.
Doch auch das nicht-Menschgemachte macht Freude. Überall wächst und grünt etwas hervor, liegen Steinchen in interessanter Formation, ziehen Wolken unterschiedlichster Darreichungsformen und Schablonisierungen einher oder weht etwas im Wind.
Wo Bäume sind, ist Rauschen.
Die goldene Spaziergehzeit ist der Abend, wo alles sich wieder einfindet, zur Ruhe kommt, herunterfährt, gemeinsam wird, und ein herschleichender Frieden sich über alles breitet wie eine warme Decke. Sommerhitze ist nicht mehr ganz so heiß und weicht der abendlichen Kühle. Schnee fängt wieder an zu knirschen, Licht wird blau. Verkehr zerrieselt und verebbt, wird zu entferntem Rauschen. Das Tagwerk ist vollbracht. Alles atmet aus.
Spazieren ist etwas ganz anderes als Wandern, dessen nicht genug zu preisende Effekte übrigens sehr faszinierend und eindrücklich in Clemens G. Arvays Buch über „Biophilia“* beschrieben werden. Spazieren strengt kaum an, ist nicht zielgerichtet, hat weder Eile noch Zeitplan. Spazieren kann an jeder Straßenecke neu entschieden werden, ist der Inbegriff von „Alles kann, nichts muss“. Spazieren geht in Leggins und Hosenanzug, ganz ohne Gepäck und mit „nichts“ in der Tasche, ist spontan statt Plan. Statt auf „Fernsicht“ zu akkomodieren, hält sich das Auge an Allerlei hübschem, kleinen, bemerkenswerten, unspektakulären, älltäglichen fest, hüpft von hier nach da, und das darf es auch. Spazierengehen schließt Freundschaft mit der Stadt und ihren Bewohnern. Für einen Moment taucht man in ihren privaten Kreis ein, kommt ihnen Nahe, und verlässt ihn auch gleich wieder.
Wichtig ist, dass man mal vorbeigeschlendert ist – denn alles will wahr genommen werden.
Und dann geht man nach Hause.
Als sei nichts gewesen.
Einfach so.
Schließt die Tür auf und ist wieder einer von ihnen – im „Drinnen“.
Eins ist klar – ein Alibi hat man dann nicht.
Hast Du auch Lust auf „Jeden Tag alle Farben“-? Dann spaziere doch einfach mal los – alle Farben bekommen die Augen nämlich unterwegs geschenkt! 🙂 Anbei ein Spaziergang durch Seesen Ende September 2015. Komm, Oma, wir gehen in die Gärten gucken!…:
(Klick‘ für die Bildergalerie!)
* Clemens G. Arvay: „Der Biophilia-Effekt“, 2015, edition a, ISBN 978-3-99001-113-3. Buchbesprechung folgt demnächst!